Das Buch liegt zwischen jeder Menge Kinderspielzeug und gemalten Bildern: Knete, Buntstifte, Bauklötze und Spielfiguren liegen überall verteilt.

[Rezension] Blind mit Kind

Blind mit Kind. Episoden aus unserem Alltag – Hannah Reuter

Das Buch liegt zwischen jeder Menge Kinderspielzeug und gemalten Bildern: Knete, Buntstifte, Bauklötze und Spielfiguren liegen überall verteilt.

Verlag: w_orten&meer | Seiten: 88
Erscheinungsjahr: 2021

Kurzbeschreibung

Hannah Reuter erzählt von den täglichen Höhen und Tiefen im Leben einer blinden Person und Mutter. Die Autorin schildert die Herausforderungen, mit denen sie im Alltag konfrontiert wird, und deren Überwindung man ihr nicht zutraut, wie das Klettern über einen umgestürzten Baum. Sie beantwortet Fragen, die man sich als nicht-behinderte Person entweder nicht zu stellen wagt oder die viel zu oft und aufdringlich gestellt werden.


Meine Meinung

Dieses kleine Büchlein war ein überraschender Fund, den ich auf der diesjährigen Leipziger Buchmesse beim w_orten&meer Verlag gemacht habe. Lasst euch von dem schmalen Band nicht täuschen, denn darin stecken wertvolle Darstellungen zum Leben als blinde Person bzw blinde Mutter.

Mit jeder Menge Humor, einer Wagenladung Engelsgeduld und vielen kreativen Wortspielen („Ohren auf und durch“) nimmt Hannah Reuter ihre Leser*innen mit in ihren Alltag, der sich, wie manch einer überrascht feststellen wird, gar nicht mal so sehr von dem eines sehenden Elternteils unterscheidet. Ob es um das gemeinsame Puzzeln, das Aufräumen des Kinderzimmers oder um die Zusammenstellung der Kleidung geht – die Autorin beschreibt ihre Normalität mit viel Offenheit und Herzlichkeit.

Die von ihr geschilderten Situationen erscheinen fast schon banal und man fragt sich, warum sie überhaupt einer Erklärung bedürfen. Eine Antwort auf diese Frage liefert die Autorin schon ganz zu Beginn, wenn sie erzählt, dass das Jugendamt die beiden blinden Eltern auf ihre Tauglichkeit prüft. Wenn es um das Unverständnis und die Kurzsichtigkeit ihrer Umgebung geht, nimmt die Autorin kein Blatt vor den Mund und äußert unumwunden ihre Kritik:

Warum überprüfen die [Mitarbeiter*innen vom Jugendamt; WS] nicht mal Leute, bei denen Kinder wirklich wenig umkümmert in einer Ecke sitzend mehr überleben als leben? (S. 13)

Die Autorin scherzt nicht nur über die Leichtigkeiten, die ihr unnötig erschwert werden, sondern sie zeigt auch Missstände auf. Da geht es um ernste Themen, wie die Erste-Hilfe-Versorgung am Kind, um den Mangel an geeigneter Abendlektüre in Form von taktilen Kinderbüchern oder aber es geht um die Angst, das eigene Kind als Haushaltshilfe zu benutzen und die Verantwortung für den Alltag auf viel zu kleine Schultern abzulegen. Diese Themen geht die Autorin nüchtern, selbstreflektiert, aber nicht weniger positiv gestimmt an.

Ich hatte wirklich viel Spaß bei der Lektüre: Ich habe mich amüsiert, viel gelernt und meine eigenen Privilegien hinterfragt. Hier und da fühlte ich mich ertappt, weil ich mich bisher nicht mit dieser Lebensrealität auseinandergesetzt habe. Ich habe vielleicht nie anmaßend in Frage gestellt, ob blinde Eltern die Erziehung schaffen können; aber ich habe mich auch noch nie bewundernd gefragt, wie sie es denn schaffen. Da kam mir dieses Büchlein gerade recht.

Wer einmal in die Texte hineinschnuppern möchte, kann das im Rahmen der gleichnamigen taz-Kolumne „Blind mit Kind“ (2018/19) unter folgendem Link tun: https://taz.de/Blind-mit-Kind/!t5534262/. Die Kolumne umfasst insgesamt 14 Beiträge, die auch in dem Buch abgedruckt sind. Die Texte tragen allerdings andere Titel („Hilfe zur Selbsthilfe“ heißt in der Kolumne bspw „Solidarität und Spaß“). Auch inhaltlich gibt es hier und da geringe Abweichungen (ich habe die Texte der Kolumne lediglich überflogen – im Großen und Ganzen ist der Inhalt identisch). Das Buch enthält insgesamt 27 „Episoden aus unserem Alltag“, man kommt hier also in den Genuss von 13 unveröffentlichten Texten. Zu diesen gehören zB „Blinde Hilfe am Kind“ (Wie leistet man als blinde Mutter Erste-Hilfe, wenn sich das Kind verletzt?) oder „Die Trotzphase – unerwartet barrierearm“ (Wie geht man als blinde Mutter mit einem trotzigen Kind um?).


Mein Fazit

Man muss nicht unbedingt sehen können, um das Leben und den Alltag erfolgreich zu meistern. Das zeigt Hannah Reuter auf humorvolle, offenherzige und nahbare Weise. Dabei ist sie dem unwissenden Leser*innen zugewandt, legt den Finger aber auch ohne zu zögern in die Ableismus-Wunde. Ob Zuhause, im Straßenverkehr, in der Kita oder beim Einkaufen – die Anekdoten unterhalten und bilden zugleich. Absolute Leseempfehlung!


Weitere Meinungen zu “Blind mit Kind” von Hannah Reuter

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

WordPress Cookie Plugin von Real Cookie Banner