[Rezension] Identitätskrise

Identitätskrise – Alice Hasters

Das Buch liegt auf zwei grauen Decken.

Verlag: hanserblau | Seiten: 224
Erscheinungsjahr: 2023

Kurzbeschreibung

Ist unsere Gesellschaft wirklich so klimabewusst, gleichberechtigt und diskriminierungsfrei wie sie sich immer darstellt? Stimmt unsere Selbsterzählung mit der Realität überein oder bricht die wohl kuratierte Geschichte unserer Identität so langsam zusammen? Steckt unsere Gesellschaft, steckt der Westen mitten in einer Identitätskrise? Alice Hasters enttarnt die Geschichten des Westens und plädiert dafür, sich der Identitätskrise zu stellen und einen Weg hinaus zu finden.


Meine Meinung

Krieg, Streik, Populismus, Rechtsextremismus, Klimawandel – egal wohin man schaut, es kriselt. Der Blick in die Nachrichtenapps ist frustrierend: Schlechte Nachrichten überraschen mich gar nicht mehr, nein, ich bin viel eher überrascht, wenn es mal keine gibt. Weltschmerz, Ohnmacht und ein Gefühl der Handlungsunfähigkeit haben es sich gemütlich gemacht und haben sich bei mir eingenistet. Da war es kein Wunder, dass mich dieses Buch in der Buchhandlung nicht nur angesprochen, sondern angebrüllt hat.

Protagonist des Sachbuches ist der „Westen“ mit seinen Werten, seinen Idealen, den vermeintlichen Sicherheiten, den Fehlern und den Lügen. Es geht vor allem um die Konsequenzen, die sich aus dem Zusammenwirken dieser Elemente ergeben, nämlich die Identitätskrisen: „Eine Identitätskrise ist ein Prozess. Sie bedeutet die emotionale Auseinandersetzung mit gesellschaftlichem Wandel“ (S. 4). Jetzt gerade leben wir in einer dieser Identitätskrisen und dieses Sachbuch kann eine Stütze sein, die Unsicherheiten, die uns umgeben, zu verstehen.

Das Sachbuch lässt sich grob in drei Teile aufteilen: Zu Beginn findet man einen kurzen Prolog mit einer Hinleitung zum Thema und „Kurze Erklärungen für komplexe Begriffe“, diese umfassen die Begriffe Identität, Realität, Krise und Westen. Die Autorin bietet sehr handliche Definitionen, mit denen sie den Zugang zu diesem Themenkomplex erleichtert. In der Kürze liegt die Würze – dieses Motto hat sich die Autorin sicherlich zu Herzen genommen als sie ihre Gedanken, Überlegungen und Recherchen zu Papier gebracht hat.

Im eigentlichen ersten Teil erzählt die Autorin Geschichten, die den Westen in zahlreiche und unterschiedliche Identitätskrisen gestürzt haben. Die Kapitelüberschriften beginnen jeweils mit den Worten „Das Ende von…“. Diese Titelworte scheinen in der Sachbuchsparte derzeit im Trend zu liegen: Man denke an „Das Ende der Ehe“ oder „Why we matter. Das Ende der Unterdrückung“ von Emilia Roig oder an „Das Ende des Kapitalismus“ von Ulrike Herrmann. Mit diesen Kapitelüberschriften liegt die Autorin definitiv im Trend und beruft sich damit auf das titelgebende Werk „Das Ende der Geschichte“ von Francis Fukuyama, das ihr als Ausgangspunkt für ihr Sachbuch diente. Nach jedem Ende steht ein Anfang, eine Identitätskrise!

Von welchen Enden, von welchen Identitätskrisen, von welchem Wandel spricht die Autorin also? Es geht um Privilegien, Konsum, Kapitalismus, Wohlstand, Armut, Emanzipation, Geschlechterrollen, Ehe, Rassismus, Kolonialismus und Dekolonialisierung, Nationalsozialismus – you name it! Die Autorin hinterfragt die Bedeutung von Arbeit, setzt sich kritisch mit unserer Erinnerungskultur auseinander und schaut darauf, inwiefern wir als Gesellschaft und als Einzelpersonen anpassungsfähig, halsstarrig oder individualistisch sind. Kurz gesagt: Es ist ein Rundumschlag der letzten knapp 100 Jahren unserer westlichen Geschichte und dabei erhebt die Autorin keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Bei einer Seitenzahl von knapp 220 Seiten ist das auch nicht schwer möglich.

Bei der Auseinandersetzung mit all diesen Themen gelingt es ihr, komplexe und verzweigte Zusammenhänge verständlich und eingängig darzustellen. Die Darstellung ist geprägt von einem sarkastischen und bitteren Unterton. Allerdings ist diese Auseinandersetzung auch überspitzt, zusammenfassend, vereinfachend und provokant.

Die Diskussionspunkte, die Kritik, die die Autorin äußert; die Denkanstöße, die die Autorin gibt – vieles davon kannte ich bereits, hatte ich schon woanders mal gelesen oder gehört, aber das störte mich keineswegs. Ein Thema, das mich sehr betroffen gemacht hat und das ich unbedingt vertiefen möchte, waren die historischen Ereignisse rund um die sogenannten „Brown Babies“. Als „Brown Babies“ werden die Kinder bezeichnet, die nach dem Endes Zweiten Weltkriegs von einer deutschen Mutter und einem afroamerikanischen Vater geboren wurden. Der gesellschaftliche „Umgang“ mit diesen Kindern hat mich erschreckt und mein Unwissen genauso.

Auch das Kapitel „Das Ende des Erinnerns“, in dem sich die Autorin mit dem Nationalsozialismus, mit der deutschen Identität und mit unserer Erinnerungskultur auseinandersetzt, hat mich in seinen Bann gezogen. Denn auch ich gehöre zu den Personen, die mit Nationalstolz nicht viel anfangen können. Surprise: Die Autorin kritisiert auch diese Haltung und ich konnte den einen oder anderen wichtigen Denkanstoß mitnehmen.

Der letzte Teil des Sachbuches beinhaltet eine essayistische Auseinandersetzung mit den Emotionen, die gesellschaftlicher Wandel mit sich bringt. Es sind fiktive, emotionale Ausbrüche, die versuchen, die Identitätskrise fühlbar zu machen. Wenn man sich emotional mit gesellschaftlichem Wandel auseinandersetzt, durchläuft man einen Prozess. Diesen Prozess verdeutlicht die Autorin anhand des Sterbemodells der Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross. Die Essays lassen sich den fünf emotionalen Zuständen („Phasen der Trauer“) zuordnen: Verdrängung, Wut, Verhandeln, Depression, Akzeptanz.

Die Essays erschienen mir sehr bruchstückhaft und ich muss ehrlich sagen, dass das Geschriebene etwas an mir vorbeiging. Gefallen haben mir „Ein Meeting mit der Zukunft“, „Eine Geschichte übers Vergessen“ und „Falschliegen“. Hier war die Kürze, die das restliche Sachbuch so zugänglich gemacht hat, eher weniger zuträglich und den Essays fehlte teilweise einfach an Schlagkraft.

Zum Schluss präsentiert die Autorin ein Quellenverzeichnis, das allerdings etwas isoliert und bezuglos daherkommt, weil es im Fließtext keinerlei Verweise auf das die einzelnen Quellen gibt. Schade!

Und kleiner Rant zum Schluss: Wer ist bitte im Verlag auf die Idee gekommen, die Silben des Worts „Identitätskrise“ auf diese sinnverstellende Art und Weise zu trennen?! Beim Anblick des Covers habe ich jedes Mal eine kleine Identitätskrise erlittenn. Laut Duden wird das Wort nämlich eigentlich folgendermaßen getrennt: Iden|ti|täts|kri|se – Rant Ende.


Mein Fazit

Es kriselt in unserer Gesellschaft. Aber wie kann man mit diesen Krisen am besten umgehen? Indem man versucht zu verstehen, wie man in diese Situation gekommen ist und wie man wieder herauskommen kann. „Identitätskrise“ von Alice Hasters hilft dabei, sich unserer Identitätskrise zu stellen. Für Einsteiger*innen, die Antworten auf Fragen suchen, von denen sie nicht mal wussten, dass sie sie haben. Eindeutige Leseempfehlung!


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