Der eReader mit dem farbigen Cover liegt auf einer Baumscheibe, umgeben von Farnen und Tannenzweigen (aus Plastik).

[Rezension] Stammzellen

Stammzellen – Alina Lindermuth

Der eReader mit dem farbigen Cover liegt auf einer Baumscheibe, umgeben von Farnen und Tannenzweigen (aus Plastik).

Verlag: Kremayr & Scheriau | Seiten: 312
Erscheinungsjahr: 2025

Kurzbeschreibung

Seit einigen Jahren wird die Menschheit von einer neuartigen Krankheit geplagt: von der sogenannten Dendrose. Über einen langwierigen Prozess verwandeln sich die Erkrankten in Bäume. Es fängt harmlos an, ein Kribbeln in den Zehen oder ein trockener Ausschlag am Fuß, was darauf folgt, stellt die Medizin, die Botanik und die weltweite Bevölkerung vor ein grausames Rätsel.


Meine Meinung

„Stammzellen“ von Alina Lindermuth war eine glückliche Entdeckung auf der Leipziger Buchmesse 2025: Dieser Roman hat mich dermaßen fasziniert und begeistert, dass ich ihn im Rahmen einer Buchpräsentation in meinem Schwedischkurs vorgestellt habe (auf Schwedisch, versteht sich).

Die Handlung des Romans folgt der jungen Medizinerin Ronja. Sie arbeitet als Allgemeinmedizinerin in einem Krankhaus und ehrenamtlich engagiert sie sich in einem Dendro-Team. Diese Teams begleiten Betroffene von den ersten Symptomen bis zu ihrer Verpflanzung – und darüber hinaus. Die Teams bestehen ua aus Mediziner*innen, Botaniker*innen und Sozialarbeiter*innen. Über ihre ehrenamtliche Arbeit und später durch die Ereignisse in ihrem Privatleben wird man als Leser*in Stück für Stück in diese neue Normalität eingeführt. Es findet kein Infodumping statt, sondern alles Wissenswerte und -wichtige wird geschickt in die Erzählung eingeflochten.

Dass sich die Autorin an den Gegebenheiten, Ereignissen und Entwicklungen rundum die Corona-Pandemie inspiriert hat, wird ziemlich schnell eindeutig. Aber die Geschichte ist kein billiger Abklatsch; die Autorin reichert das Krankheitsbild der Dendrose mit eigenen, originellen und spannenden Ideen an. Dabei fand ich vor allem die Erläuterungen zu den gesellschaftlichen Veränderungen, Krisen und Umwälzungen sehr interessant. Da gibt es zB Menschen, die glauben, Herbizide könnten sie vor der Krankheit retten – wenn das mal nicht an die Verschwörungstheorien rundum Corona und Ivermectin erinnert. Dabei muss sich sagen, dass mir als Laiin die Verbindung zwischen Herbiziden und einer Krankheit, die einen in eine Pflanze verwandelt eher einleuchtet, als der Zusammenhang zwischen Corona und einem Mittel gegen Parasiten (aber was weiß ich schon).

Der Roman legt natürlich einen starken Fokus auf das Klima, die Umwelt und auf die Natur im Allgemeinen; sowohl von einer gesellschaftlichen als auch von einer privaten, die Protagonistin betreffenden Perspektive. Naturszenerien werden zur Kulisse und zu Spiegeln von entscheidenden Ereignissen im Privatleben der Protagonistin und somit ein wichtiges Strukturelement der Handlung.

Ronja war mir allgemein sehr sympathisch. Ihre ausgeglichene, aber doch willensstarke Art hat mich von Anfang an für sie eingenommen. Sie macht im Verlauf der Geschichte sehr viel durch und erlebt dabei eine bemerkenswerte Charakterveränderung. Zwar kann ich besonders ihren Männergeschmack nicht teilen, aber zum Glück hielt sich ihr Partner Elio, den Ronja ganz am Anfang des Romans kennenlernt, eher im Hintergrund auf. Ich fand Elio leider recht nichtssagen und zu Beginn des Kennenlernens auch etwas nervig. Sein Verhalten während der Kennenlernzeit war mir, um ehrlich zu sein, etwas zuwider. Ja, es ist eine „feinfühlige“ Liebesgeschichte, um es mit den Worten des Verlags zu beschreiben; die beiden unterstützen und schätzen einander, aber leider hat mich das Zwischenmenschliche der Beziehung nicht so ganz erreicht.

Interessant fand ich an Elio lediglich seinen Job: Er ist Sprachwissenschaftler und forscht zu den sprachlichen Veränderungen, die die Dendrose im Sprachgebrauch bewirkt hat. Er ist Experte für Sprichwörter und Redewendungen: Die Szenen dazu fand ich im Roman sehr liebenswert. Ronja nennt Elios Forschungsbereich „Baumwörter“, und während die Autorin in einigen Bereichen vor Ideen nur so sprüht, fand ich die Behandlung dieser Baumwörter sehr stiefmütterlich. Beispiele bringt sie keine, sehr schade! Dabei hätte es ihr an inspirationsgebendem Material nicht fehlen dürfen – während der Hochzeit der Corona-Pandemie gab zu diesem Thema so viel sprachwissenschaftliche Forschung (https://www.ids-mannheim.de/neologismen-in-der-coronapandemie/).

Besonders gut hat mir die sprachliche Bildlichkeit gefallen, obwohl die Sprache einfach und nüchtern gehalten ist, ohne viel stilistische Ausschmückungen. Wörter wie „verpflanzen“, „Stammzelle“ und „verwurzeln“ bekommen im Laufe der Lektüre ganz neue Bedeutungen und Konnotationen.

An sich verläuft der Spannungsbogen im Roman ungebrochen und ohne Durchhänger. Der Rhythmus ist gerade richtig: nicht zu schnell und nicht zu langsam. Die zeitlichen Sprünge zwischen den Kapiteln stören nicht, und dadurch, dass die Geschichte sich in einem alltagsnahen Rahmen bewegt, konnte man die Leerstellen sehr gut selbst füllen. Der Wendepunkt – ich hab das wirklich nicht kommen sehen – hat mich kalt erwischt und total aus der Bahn geworfen.

„Stammzellen“ ist eine morbid-faszinierende Idee. Die Autorin macht das Unmögliche vorstellbar. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, mir vorzustellen, wie es sich wohl anfühlt, bei schwindendem Bewusstsein und einem verholzten Körper in die Erde meines Gartens eingepflanzt zu werden. Ich bekomme bei dem Gedanken daran, noch immer Gänsehaut…

Der Roman ist ein spannendes Gedankenexperiment: Er stellt viele philosophische Fragen, ohne diese offen auszusprechen. Während der Lektüre brodelte es ordentlich unter meiner Schädeldecke: Würden wir uns besser um die Natur kümmern, wenn wir als Baum in ihr weiterleben würden? Und was bedeutet es überhaupt, als Baum zu leben? Ist ein solches Leben für uns und in unseren Augen überhaupt lebenswert?


Mein Fazit

Ich kann diesen Roman mit gutem Gewissen empfehlen, vor allem wenn man Lust hast, sich mit einer düsteren Zukunftsvision auseinanderzusetzen, sich einem Gedankenexperiment stellen möchte oder wenn man sich für die aktuellen Krisen unserer Gesellschaft, die sich hier in einem neuen, aber doch allzu bekannten Gedwand präsentieren, interessiert.


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