[Rezension] Accabadora

Accabadora – Michela Murgia

Aquila

Verlag: Verlag Klaus Wagenbach | Seiten: 176
Originaltitel: Accabadora | Übersetzerin: Julika Brandestini
Erschienen: 2017

Kurzbeschreibung

In den 1950er Jahren wächst Maria Listru im Hause von Bonaria Urrai auf. In Soreni, einem kleinen Dorf auf Sardinien, bezeichnet man Maria als „fill’e l’anima“; denn Maria ist nicht Bonarias leibliche Tochter, sie ist ihr „Seelenkind“. Maria ist die vierte und ungewollte Tochter ihrer Mutter und eine ständige Last. Tzia Bonaria adoptiert Maria: Sie soll Bonarias Erbe antreten und die Frau im Alter pflegen. Tagsüber ist Bonaria Schneiderin, doch nachts schleicht sie sich aus dem Haus, um einer anderen Tätigkeit nachzugehen, von der alle im Dorf wissen, außer Maria…


Meine Meinung

I’m late to the party, I know! Den Roman „Accabadora“, im Italienischen bereits 2009 bei Enaudi und in deutscher Übersetzung von Julika Brandestini schon ein Jahr später im Verlag Klaus Wagenbach erschienen, habe ich erst jetzt in die Hände bekommen. Aber ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich nicht das Gefühl habe, allzu viel verpasst zu haben.

Der Titel und sardische Ausdruck „accabadora“ verrät, welcher geheimnisvollen Tätigkeit Bonaria Urrai im Schutze der Nacht nachgeht. Tzia Bonaria ist Schneiderin bei Tag und Accabadora bei Nacht: Sie leistet Sterbehilfe. Alle im Dorf wissen es, außer die unwissende Protagonistin, Maria Listru, Tzia Bonarias Adoptivtochter.

„Accabadora“ ist ein atmosphärischer Coming-of-Age-Roman, der nicht nur von Maria Listrus Aufwachsen und von ihrem Hadern mit ihrem Erbe erzählt. Der Roman bringt dem*der Leser*in Sardinien und die Menschen, die dort während der Nachrkriegszeit leben näher. Man erhält Einblicke in ihre Eigen- und Besonderheiten, in ihre Bräuche und Traditionen. Im Mittelpunkt steht das harte, rurale Leben, die Armut und der Umgang mit dem Tod. Und obwohl Maria die Protagonistin ist, werden die Geschichten von vielen weiteren Personen erzählt: viele Puzzleteile, die später ein Ganzes ergeben.

Die Handlung lässt sich grob in drei Teile aufteilen, die mir auf unterschiedliche Weise gut oder weniger gut gefallen haben. Die drei Teile warten nämlich mit unterschiedlichen erzählerischen Qualitäten auf. Im ersten Teil (der sich in etwa bis über die Hälfte des Buches erstreckt) lernt man den Ort Soreni und seine Bewohner*innen kennen. Man begleitet Maria durch ihre frühe Kindheit bis hinein in die Jugend und erlebt die Annäherung an ihre Adoptivmutter. Man sieht die Schatten, die einen Konflikt am Horizont erahnen lassen und schließlich auch wie er sich schließlich entfaltet.

Der erste Teil ist geprägt von einer erzählerischen Wucht, die eine düstere und fast magische Atmosphäre heraufbeschwört. Diese Wucht schlägt sich auch im Sprachstil nieder: Der Autorin gelingt es mit wenigen Worten, sehr viel auszudrücken. Die Sprache ist einfach gehalten, durchsetzt mit Sardischem und vielen ausdrucksstarken sprachlichen (sentenzenhaften) Bildern, die an Sprichwörter erinnern. Gelegentlich war der Stil zwar ein bisschen zu aufgeladen, ein bisschen zu bedeutungsschwanger, sodass es fast ein bisschen pathetisch klang, aber insgesamt hat er dazu beigetragen, dass sich ein Gefühl für diese Lebenswelt entfalten kann.

Im nachfolgenden Teil geht diese atmosphärische und düster-magische Erzählweise verloren. Der zweite Teil (etwa im letzten Drittel des Romans) stellt einen klaren Bruch mit dem ersten Teil dar: nicht nur erzählerisch, sondern auch geographisch. Die Konsequenzen des Konflikts liegen offen. Es sind zwanzig Seiten, die, ja was, dem inneren Wachstum der Protagonistin dienen sollen? Man muss sich in ein vollkommen anderes Setting hineindenken, während man Soreni noch gar nicht hinter sich gelassen hat. Einerseits ein geschickter erzählerischer Kniff, andererseits hatte ich das Gefühl, dass die Handlung dadurch nur künstlich in die Länge gezogen wurde, zumal die Ereignisse sehr klischeehaft, effektheischend und irgendwie langweilig herüberkommen. Der zweite Teil wirkt so mondän, was natürlich Absicht ist. Es wird aber auch weniger detailreich erzählt und daher wirkt es im Vergleich zum ersten Teil der Geschichte sehr flach und charakterlos.

Auch im dritten Teil wird die atmosphärische, düster-magische Erzählweise nicht wiedergefunden. Das Ende ist auch recht vorhersehbar, es ist sehr versöhnlich gestimmt und insgesamt hatte ich das Gefühl, dass sich alles im Sand verläuft. Es wird alles irgendwie offen gehalten, aber auch irgendwie nicht. Eine Auseinandersetzung mit dem Thema Sterbehilfe findet zwar statt und man versteht die Handlungsmotivation der Protagonistin, aber insgesamt bleibt der Diskurs oberflächlich. Eine innere Debatte findet bei der Protagonistin zwar schon statt, nur bleibt diese Auseinandersetzung dem*der Leser*in verborgen und es beschleicht einen die Frage, ob es diesen angeblichen Konflikt wirklich gab.


Mein Fazit

Insgesamt habe ich mir von der „Accabadora“ mehr versprochen: Nach einer ersten, starken erzählerischen Hälfte verliert der Roman seine Wucht, die auch im Verlauf der restlichen Handlung, deren Spannungsbogen immer weiter abflacht, nicht wiedergefunden wird. Eine durchwachsene Handlung, die dem eigentlich ernsten Thema Sterbehilfe nicht ganz gerecht wird. Eingeschränkte Leseempfehlung.


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