[Rezension] 64

64 – Hideo Yokoyama

Verlag: Atrium Verlag | Seiten: 768
Erschienen: 2018

Kurzbeschreibung
Yoshinobu Mikami ist der Pressesprecher eines Tokioter Polizeireviers. Ein ungelöster Kriminalfall, der unter dem Aktenzeichen ’64‘ bekannt ist, erhält Aufwind als, anlässlich des Jahrestags des Verbrechens der Generalinspektor der Nationalen Polizeibehörde, dem Ort des Verbrechens und der Familie des Opfers einen Besuch abstatten möchte. Im Zuge der Vorbereitungen stößt Mikami auf ein rätselhaftes Memo zum Fall 64, welches nie an die Öffentlichkeit gelangt ist. Er beginnt zu recherchieren: Bringt dabei ungeahnte Wahrheiten ans Licht und gerät mit anderen Beamten und Abteilungen aneinander, denen seine Ermittlungen nicht zupasskommen.

Meine Meinung
Ich kann mit Fug und Recht behaupten, dass ich noch nie einen Thriller dieser Art gelesen habe. Ziemlich harter Tobak muss ich sagen – nicht weil er besonders blutig oder gewalttätig war, sondern weil er den Leser mit unglaublicher intellektueller Gewalt plättet und niederstreckt. Ich habe lange keinen so unblutigen und langatmigen Thriller gelesen. Mehr noch, die ‚Gewalt‘, die vorkommt, erschien mir total fehl am Platz. Insgesamt hat 64 wenig mit den Thrillern zu tun, die ich sonst verschlinge.

Der Auftakt war recht vielversprechend und die Erwartungen schossen dementsprechend in die Höhe. Und auch der Klappentext tat sein übriges. Aber bei der weiterführenden Lektüre fand ich die Handlung eher langweilig und unspektakulär. Aber das liegt auch an meinem persönlichen Geschmack: Mich interessieren eher Thriller, die den Ermittlungsablauf schildern, die beschreiben wie das Adrenalin in Wallungen gerät wenn man kurz davor steht den Täter zu überführen usw. Bei ’64‘ geht es hauptsächlich um die internen Abläufe der Polizei. Es geht um Machtkämpfe zwischen Beamten und Abteilungen, um Verwaltung und Politik. Leider überhaupt nicht mein Fall. Klar, es war natürlich interessant, diese Seite der Medaille kennenzulernen und auch etwas über die japanischen Kultur zu lesen und mitzunehmen, aber es war größtenteils sehr anstrengend und sehr trocken.

Als Leser erhält man einen sehr detaillierten Einblick in die Gedanken- und Gefühlswelt von Mikami, dem Protagonisten der Geschichte. Er ist ein ehemaliger Ermittlungsbeamter, der Direktor der Pressestelle geworden ist und sich dementsprechend häufig mit der Presse anlegt. Seine Tochter ist verschwunden und ein ominöser ungeklärter Fall tritt plötzlich in den Mittelpunkt seiner Arbeit. Soweit so gut, aber beim Lesen folgt man Mikamis Überlegungen und Schlussfolgerungen während er versucht hinter die Verschwörung, die sich im Präsidium zusammenbraut, zu kommen. Bei diesen Überlegungen tritt die Seite des Ermittlungsbeamten klar hervor. Dies wird auch von seiner Kombinierfähigkeit unterstrichen (dies hat mich sehr an Detective Conan erinnert). Hierbei handelte es sich um ein Element, welches mir zunächst sehr gut gefallen hat. Später bin ich diesen Schilderungen aber überdrüssig geworden. Ich bin während seiner gedanklichen/inneren Monologe teilweise abgeschweift, weil ich die Lektüre einfach als zu sättigend und anstrengend fand. Intellektuell habe ich mich nicht überfordert gefühlt, sondern es war einfach nur eine sehr trockene und langatmige Lektüre. Das Innere Mikamis und seine private Situationen spielen eine wichtige Rolle: Er ist ein Spiegel – seine innere Zerrissenheit gleicht der Zerrissenheit des Polizeipräsidiums. Seine Sorge um seine Tochter spiegelt sich im Fall 64 wider. Dies wurde vom Autor geschickt eingefädelt.

Die Handlung kommt jedoch nicht in Fahrt. Es geht immer dann ein Stückchen weiter, wenn sich eine Spekulations Mikamis bewahrheitet oder nicht, oder wenn ihm eine neue Idee kommt. Gedanken und Überlegungen brauchen Zeit um sich zu entfalten und dementsprechend viele Seiten. Dazu kommt, dass die Schilderungen sehr detailreich, oftmals kompliziert und anspruchsvoll sind. Dementsprechend muss man beim lesen sehr gut aufpassen und aufmerksam sein, um kein Detail zu verpassen. Daher eignet sich dieser Thriller nicht als Lektüre für Zwischendruch.

Mikami gibt dem Leser in seinem Gedankenfluss sehr viele subtile Hinweise, bei denen sich der Leser am Ende an die Stirn fasst und den Kopf schütteln muss. Es war so absurd wie die einzelnen Elemente am Ende zusammenpassten, dass man sich doch etwas ‚dumm‘ vorkam. Einige Sachverhalte habe ich zwar erahnen, aber erst später in ihrer Vollständigkeit erfassen können.

Wenn man sich tapfer durch die ersten 600 Seiten gekämpft hat, wird man auf den letzten 70-80 Seiten belohnt. Das Tempo nimmt zu, es passiert sehr viel auf einmal und es wird spannend. Denn, der Fokus verschiebt sich, es geht nicht mehr um die inneren Machtkämpfe. Die Auflösung hat mir ziemlich den Kopf verdreht, konnte aber beileibe nicht die restlichen 600 Seiten aufwiegen, durch die ich mich mehr oder weniger zwingen musste. Trotz allem wirkte der Thriller zu keinem Zeitpunkt konstruiert oder unglaubwürdig. Die Figuren, vor allem Mikami und Amamiya, wirken authentisch und ich konnte ihnen sehr gut habhaft werden. Ich glaube, dass der Thriller die Polizeiarbeit besser darstellt, als jeder andere Thriller, den ich zuvor gelesen habe es getan hat. Nichtsdestotrotz hat er mir nicht gefallen und ich war unglaublich erleichtert als ich die letzte Seite erreichte.

Mein Fazit
Ich muss ehrlich sagen, dass mir die Geschichte nur bedingt gefallen hat. Der Thriller hat ein paar starke Seiten, aber leider überwiegen mMn die negativen Aspekte. Hätte ich vorher genau gewusst, worauf ich mich einlasse, hätte ich die Finger davongelassen. ’64‘ ist ein Monolith, das seinesgleichen sucht. Es ist ein Mammuth mit interessanten Perspektiven, Figuren und Verwicklungen, aber (sehr) langatmiger Erzählweise. Fazit: Lesen, aber nur auf eigene Gefahr!

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