[Rezension] Anne Lister

Anne Lister. Eine erotische Biographie – Angela Steidele

Aquila

Verlag: Verlag Matthes & Seitz | Seiten: 328
Erschienen: 2017

Kurzbeschreibung
Anne Lister (1791-1840) war eine faszinierende Frau: sie war mutig, klug und versuchte ihr Leben nach ihren Regeln zu leben. Aber sie war auch ein „schlimmer Finger“. Sie verführte reihenweise Frauen und das zu einer sehr zugeknöpften Zeit des präviktorianischen Zeitalters in England. Ihre Beziehungen bis hin ins kleinste erotische Detail beschrieb und kommentierte sie chiffriert in ihren Tagebüchern, von denen insgesamt 24 überliefert sind. In dieser erotischen Biographie rekonstruiert und erzählt Angela Steidele Annes L(i)eben und ihr Wirken anhand des gesichteten Materials und der Transkriptionen der Klar- und Geheimschrift


Meine Meinung
Wenn ich in mein Tagebuch schreibe, dann in der Hoffnung, dass den Unsinn nie jemand anderes außer mir zu Gesicht bekommt. Vielleicht sollte ich auch mal darüber nachdenken, ob ich mir eine Geheimschrift zulege, so wie es Anne Lister getan hat, die mittels ihres Codes pikante Geheimnisse ihres Sexuallebens verschlüsselte. Aber wenn ich so darüber nachdenke, dann sind meine Gedanken schon verschlüsselt genug ohne Code – und pikante Geheimnisse habe ich sowieso keine…

Die Lister-Forschung hat eine lange Tradition (alles begann ungefähr 1854 als die Tagebücher von John Lister, einer von Anne Listers Nachfahren, zufällig gefunden wurden), dennoch sind noch nicht alle Tagebücher transkribiert und ediert. Die Jahre ab 1824/25 bergen noch viele Geheimnisse für die Leser:innen. Aber das, was man bisher übersetzen konnte – Heiliger Strohsack, war für die Zeit, in der Anne Lister lebte, sensationell und skandalös. Aber der Reihe nach.

Biographien langweilen mich üblicherweise sehr schnell, denn ich werde der Person sehr schnell überdrüssig. Bei dieser Biographie allerdings war alles anders. Abgesehen davon, dass die Biographie sehr gut geschrieben ist (bis auf eine Handvoll Kommentare von allzu wertender Natur seitens der Autorin und einem anfänglich sehr verwirrendem Wechsel zwischen der Beschreibungssprache in 3. Person und den zitierten Tagebuchauszügen in 1. Person – dies liegt aber in der Natur der Sache), war Anne Lister eine äußerst bemerkenswerte Frau. Sie war eine schillernde, aber auch ambivalente Persönlichkeit: mutig, klug, gebildet, ausdauernd und stark, aber auch selbstsüchtig, geldgeil, rastlos, manipulativ und rücksichtslos. Sie „schrieb“ nicht nur Tagebuch, sondern sie zelebrierte, lebte es; manchmal vielleicht sogar mehr als das Leben selbst.

Anne Lister führte über alles Buch: das Wetter, ihre allgemeinen Befindlichkeiten, ihre Verdauung, ihre Kleidung, über Geld, und vor allem über lesbischen Sex. Über alles was dazugehört: ihre Partnerinnen (oh ja, da gab es eine Menge), ihre Orgasmen, ihre Sehnsüchte und Geschlechtskrankheiten.

Für die Zeit in der sie lebte, der sehr zugeknöpften Zeit des präviktorianischen Zeitalters (sie war Zeitgenossin von Johann Wolfgang von Goethe und den Brontë-Schwestern) war ihre Homosexualität etwas Unerhörtes. Dennoch praktizierte sie diese relativ offen und dies wurde sogar mehr oder weniger toleriert. Anne Lister liebte Frauen, und das nicht zu knapp. Sie hatte zahlreiche Liebschaften, die auf den Seiten dieser erotischen Biographie (sehr passend gewählter Untertitel übrigens) im gesellschaftlichen Kontext genaustens beleuchtet werden. So sehr ich Anne Lister auch bewundere, stand sie ihren männlichen Zeitgenossen in toxischem und unterdrückendem Verhalten gegenüber Frauen in Nichts nach. Vor allem Ann Walker, ihre große Liebe, tat mir während der Lektüre sehr leid.

Die erotischen Stellen aus ihren Tagebüchern werden in der Biographie nicht ausgespart. Ganz im Gegenteil, sie werden sehr ausführlich und explizit ausgeführt. Dies lässt in den Jahren ab 1824/25 nach. Schuld daran ist eine Forscherin, die diese Passagen als nicht sonderlich „relevant“ einstufte (was für eine nette Umschreibung für das Wort „anstößig“?) und sie deshalb beim Transkribieren ausließ.

Es würde allerdings zu kurz greifen, Anne Lister nur auf den Sex und die zahlreichen Frauen zu reduzieren. Das merkt man bei der Lektüre ebenfalls sehr schnell. Denn sie reiste sehr viel; wollte immer höher, schneller, weiter. Anne Lister hätte sich auch gut in der Sammlung „Mehr Mut als Kleider im Gepäck“ von Julia Keay gemacht. Anne Lister war aber auch politisch engagiert und hatte einen ausgeprägten Unternehmerinnengeist. Insgesamt war ihr Leben alles andere als langweilig oder gewöhnlich.


Mein Fazit
Anne Lister war eine moderne Lesbe, ein weiblicher Don Giovanni, ein Lustmolch. Aber sie war auch viel mehr als das. Vor allem war sie uns um einiges voraus. Die von Angela Steidele verfasste Biographie zeigt dies auf eine sehr ausführliche und detaillierte Weise und liefert nebenbei noch viel historisches und gesellschaftliches Extra-Wissen. Die Biographie ist absolut lesenswert. Erotisch ja (macht euch auf etwas gefasst! „Loosen your corset and have drink“ kommen mir da Haymitchs Worte aus den Hunger Games ganz spontan in den Sinn), aber nicht nur. Die vielseitige Biographie macht dem ebenso vielfältigem Charakter von Anne Lister alle Ehre. Ich bin gespannt, welche Geheimnisse die Lister-Forschung noch lüften wird.


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