Das Buch liegt mittig im Bild. Links davon liegt eine Schatulle. Auf der Schatulle ist eine Straße Istanbuls abgebildet, die zum Galata Turm führt

[Rezension] Unerhörte Stimmen

Unerhörte Stimmen – Elif Shafak

Das Buch liegt mittig im Bild. Links davon liegt eine Schatulle. Auf der Schatulle ist eine Straße Istanbuls abgebildet, die zum Galata Turm führt

Verlag: Kein & Aber | Seiten: 432
Übersetzer*in: Michaela Grabinger
Originaltitel: 10 Minutes 38 Seconds in this Strange World
Erschienen: 2019

Kurzbeschreibung

Leila Tequila, eine Sexarbeiterin aus Istanbul, wurde kaltblütig ermordet und ihr Körper in einer Mülltonne zurückgelassen. Während ihr Körper mit jeder neu anbrechenden Minute und Sekunde immer weiter vergeht, werden Erinnerungen wach: an Leilas Leben, an ihre Familie und an andere geliebte Menschen.


Meine Meinung

Bisher stand ich den Romanen von Elif Shafak eher mit gemischten Gefühlen gegenüber. Nach „The Bastard of Istanbul“ war ich schwer begeistert von der Autorin und einfach nur hin und weg, weshalb ich damals auch sofort zum nächsten Roman griff: „The Forty Rules of Love“. Davon erfuhr mein Enthusiasmus einen ordentlichen Dämpfer. Aber mit „Unerhörte Stimmen“ ist diese Begeisterung wieder aufgeflammt.

Die Art und Weise wie die Autorin Leila Tequilas Lebensgeschichte erzählt, hat mich von Beginn an gefesselt: Erinnerungen an die Vergangenheit werden mit nur einem Duft wachgerufen und wieder lebendig – dieser Effekt bzw. diese Art sich zu erinnern, wird auch der Proust- bzw. Madeleine-Effekt genannt. Die Autorin macht sich diesen Effekt zunutze und erzählt auf nicht lineare, nicht chronologische Weise Leilas Geschichte. Das Erzählen wird von Gerüchen, Assoziationen und Emotionen geleitet: In einer kleinen Stadt in Ostanatolien kommt Leila in den späten 1940er Jahren zur Welt. Sie wächst innerhalb einer komplizierten Familienkonstellation und unter großem religiösen Druck auf. Sie flieht nach Istanbul und gerät dort in eine Abwärtsspirale an deren Ende der Tod auf sie wartet. In der zweiten Hälfte des Romans, also nach Leilas Tod, kommen verschiedene Personen zu Wort, die ihr Leben in den letzten Stunden, aber auch Jahren gekreuzt haben und ihr Leben maßgeblich mitgestaltet haben.

Leila Tequila und ihre diversen, wertvollen Freund*innen Sabotage Sinan, Nostalgia Nalan, Hollywood Humeyra, Zaynab122 und Jameelah wurden zwar von der Gesellschaft an den Rand gedrängt und ausgestoßen, aber dennoch gehen sie nicht unter. Sie sind füreinander da, sie kämpfen, stützen sich gegenseitig, auch über den Tod hinaus. Sie sind allesamt starke und bewundernswerte Figuren, von denen man sehr viel lernen kann.

Dieser Roman ist geballte Gesellschaftskritik – hauptsächlich an der türkischen Gesellschaft, aber nicht ausschließlich. Shafaks Kritik geht über Landesgrenzen hinaus. Die Autorin erzählt eine schillernde, kontroverse und zerrissene Lebensgeschichte, die der türkischen Gesellschaft einen Spiegel vorhält. Elif Shafak erzählt vom Großen im Kleinen.

Bei Themen wie Kindesmissbrauch, religiösem Fanatismus, Genderidentität, Femizid, Umgang mit dem Tod und Toten, Geschichtskritik, Patriarchat und Unterdrückung nimmt die Autorin kein Blatt vor den Mund. Shafak hinterfragt was die Konzepte, die sich hinter Begriffen wie „normal“, „natürlich“ und „Natur“ verstecken, bedeuten. Wie schon in „The Bastard of Istanbul“ zögert sie nicht, gesellschaftliche Missstände aufzudecken und diese deutlich zu benennen. Trotz dieser Düsterheit, Hoffnungs- und Ausweglosigkeit strotzt die Geschichte nur so vor Liebe, Freundschaft, Mut, Empathie und Zuversicht.

Dieser Roman ist nicht spurlos an mir vorbeigegangen. Zusammen mit Leila und ihren Freund*innen habe ich geweint und gelacht, gehofft und gebangt. Die Geschichte wirkte so real und lebendig, und das nicht nur, weil die Autorin sich auch auf wahre Begebenheiten stützt.


Mein Fazit

„Unerhörte Stimmen“ ist ein vielseitiges Portrait in Romanform: Es ist das Portrait einer starken Frau und einer mannigfaltigen Gesellschaft, die zum Spiegel des jeweils anderen werden. Die Autorin vereint Gesellschaftskritik mit meisterhaftem, erzählerischem Können und das auf jeder Seite, mit jeder Figur, mit jeder Stimme und jeder Erinnerung. Sie gibt denjenigen eine Stimme, die sonst nur allzu gerne überhört werden. Es ist ein wichtiges und extrem politisches Buch. Ihr solltet es lesen – dringend.


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