[Rezension] Jesolo

Jesolo – Tanja Raich

Aquila

Verlag: Blessing Verlag | Seiten: 221
Erschienen: 2019

Kurzbeschreibung
Andrea kann sich ein Kind in ihrem Leben überhaupt nicht vorstellen, und doch ist sie auf einmal mittendrin. Nach einem Sommerurlaub mit ihrem Partner in Jesolo ist sie ungewollt schwanger. Und plötzlich findet sie sich in einem Strudel wieder, aus dem sie nicht mehr herauskommt und der sie immer tiefer nach unten zieht. Ein Wirbel bestehend aus Verantwortung, Verpflichtungen, Umzug, Kredite, Renovierung, Geburtsvorbereitungskurse, Schwiegereltern und Hausfrauendasein.


Meine Meinung
Unmittelbar, sehr direkt und ungeschminkt offenbart die Autorin in intimen Momentaufnahmen die Gedanken, Gefühle, Ängste und Hoffnungen einer Frau, die ungewollt schwanger wurde und sich mehr notgedrungen und weniger aus eigener Überzeugung dazu entscheidet, das Kind auszutragen. Die Autorin zeigt auf eine sehr anschauliche, knallharte und kritische Weise, dass Schwangerschaft, Mutterschaft und das Hausfrauendasein eben nicht immer und für jede Frau mit Glück und Erfüllung gleichzusetzen sind. Einer Tatsache, die in unserer Gesellschaft keinen Platz hat und viel zu häufig übersehen wird.

Von allen Seiten im Roman springt einen die Einsamkeit, Hilflosigkeit, Ausweglosigkeit und Resignation der Protagonistin an. Sie macht gute Miene zum bösen Spiel. Man hat das Gefühl zu ertrinken, genau wie die Protagonistin. Im Verlauf der Geschichte spielen Wasser und Meer eine wichtige Rolle. Beide Elemente ziehen sich durch die gesamte Handlung und werden im Verlauf immer wilder und unkontrollierbarer. Die Protagonistin driftet weg und verliert den Halt zur Welt, zu sich selbst.

Aber die Protagonistin versucht auch (eher halbherzig und aus Schuldempfinden) das Positive zu sehen: sucht Auswege, Umwege, Chancen wie diese Schwangerschaft ihr Leben auf eine positive und aufbauende Art und Weise beeinflussen kann. Dass es eben nicht das Ende der Welt, ihrer Welt bedeutet.

Die Autorin reflektiert und setzt sich mit den Konzepten Familie, Vater und Mutter kritisch auseinander. Was heißt Familie für uns und wie beeinflusst uns Familie, die eigene, die des Partners? Immer wieder schildert sie den Einfluss der Schwiegerfamilie und den ihrer eigenen. Man liest vom ständigen (gesellschaftlichen und privaten) Erwartungsdruck seitens einer Familie, die nicht die eigene ist, seitens Freunden und dem Partner.

Die Handlung teilt sich auf 10 Kapitel auf: ein Kapitel für jeden Monat der Schwangerschaft. Es ist eine Ich-Erzählung und ich musste mich erst an diese Erzählperspektive gewöhnen. Man ist in Andreas Kopf und auch wieder nicht. Es ist ein Hin und Her zwischen Gedanken und Handlung. Die Sprache ist einfach, eindringlich und hat einen bissigen und bestechenden Klang. Die Bilder, die die Autorin heraufbeschwört, sind gewaltig und tun weh. Die Autorin gibt auf knapp 200 Seiten Einblicke in ein sehr privates Problem, das im Grunde eigentlich das Problem einer ganzen Gesellschaft verkörpert.

Die Protagonistin spricht die ganze Zeit mit ihrem Partner: du, wir, uns, dein. Aber es bleibt bei einem Monolog, denn die Protagonistin erreicht ihren Partner nicht, weil sie nicht laut genug spricht? Weil er nicht zuhört? Weil er nicht hören will? Weil sie nicht auf einer Wellenlänge sind?

Das Ende hat mich beim ersten Lesen verwirrt. Weshalb ich es nochmal und nochmal gelesen habe. Es ist kryptisch und so wirklich schlau bin ich nicht daraus geworden. Es ist außergewöhnlich und surreal, passt aber zur Entwicklung der Protagonistin, ihrem Verlorengehen, ihrem Ertrinken.

Ich habe mich und meine Ängste, meine Gefühle sehr häufig in der Protagonistin wiedererkannt. Es gab so viele Parallelen, dass es schon fast gruselig war. Es kam mir so vor als hätte mir die Autorin in den Kopf geschaut und meine Gedanken zu Papier gebracht. Es schmerzt unendlich, wenn man sich dafür entscheidet zu gehen, weil man keine Kinder möchte. Man gibt die partnerschaftliche Sicherheit auf, verliert die Liebe dieser einen Person und all die kleinen und großen Dinge, die dazugehören. Aber ich weiß, dass ich diese Entscheidung wieder und wieder treffen würde; das hat mir der Roman nochmal vor Augen geführt.


Mein Fazit
Während der Lektüre von „Jesolo“ kommt es einem so vor, in Gefühlen, Gedanken, Ängsten und Erwartungen zu ertrinken. Wenn man das Buch zuklappt, fühlt man sich von einer unerklärlichen Wucht erfasst und überrollt. Es ist keine Wohlfühl-Lektüre. Es ist rebellisch, bissig, mutig, bitter und gemein, aber erzählt von einer Lebenswirklichkeit, über die zu häufig geschwiegen wird. Einer Realität, die absichtlich übersehen wird, weil sie nicht in unsere Gesellschaft hineinpasst. Der Roman fordert dies ganz bewusst heraus und bricht dieses Tabu. Deswegen ist „Jesolo“ ein verdammt notwendiges Buch.


Meine Lieblingszitate
„Rücken an Rücken schlafen wir ein, jeder sich selbst zugewandt“ (S. 153)

„Alles ist perfekt. Ich stehe in unserem Wohnzimmer. Unser Esstisch: tausend Euro. Das Sofa: zweitausend Euro. Der Boden: fünftausend Euro. Das Tulpenbild: zweihundert Euro. Der Teppich deiner Mutter. Alles ist schön und modern. Alles ist teuer. Aber wo sind wir? Wo haben wir uns versteckt?“ (S. 182)

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