[Rezension] Tödlich verletzt (CN: Gewalt gegen Frauen)

Tödlich verletzt – Serena Dandini

Aquila

Verlag: Rizzoli | Seiten: 288
Erscheinungsjahr: 2022

Kurzbeschreibung

Femizid – die Tötung von Frauen und Mädchen aufgrund ihres Geschlechts
Da ist die Frau, die mit der Spurensicherung spricht und ihnen sagt, wo ihr Körper zu finden ist. Dann ist da die Karrierefrau, die erfolgreicher wurde als ihr Partner. Oder die nepalesische Frau, die als Sklavin bei einer reichen Familie in den Arabischen Emiraten arbeitet. Oder die minderjährige Prostituierte, die gezwungen wird, Steroide (sog. „Cow Pills“) einzunehmen, um den männlichen Kunden zu gefallen. Oder das kleine Mädchen, das in den Sommerferien nach Mali reist und dort bei einer Genitalverstümmelung ums Leben kommt und ihrer besten Freundin einen letzten Brief schreibt.


Meine Meinung

Im Jahr 2012 als die erste Ausgabe dieses Buches erschienen ist, wurden in Italien 124 Femizide verübt (Quelle). 10 Jahre später – so lautet auch der Untertitel dieser neuen Ausgabe – also im Jahr 2022 wurden 122 Femizide verübt (Quelle). Auch in Deutschland wird fast an jedem dritten Tag eine Frau ermordet (Quelle). Im Jahr 2022 haben die Fälle von häuslicher Gewalt zugenommen: 9,3% mehr Fälle als im Vorjahr (Quelle). Es hat sich also nicht viel geändert – so lautet auch das Fazit der Autorin in der Einführung zur neuen Ausgabe. Schlimmer noch: Durch die Corona-Pandemie und den Lockdown hat sich die Situation der Frauen sogar noch verschärft.

Jedes Jahr werden weltweit unzählige Frauen zum Schweigen gebracht.

„Die Gewalt gegen Frauen ist der einzige rote Faden der jede Nationalität, Kultur und Religion miteinander verbindet“ (S. 17)

Dieser mörderischen Stille stellt sich dieses Buch entgegen. Die Autorin Serena Dandini gibt den Opfern mit ihrem Buch eine Stimme: Was wenn die Opfer sprechen könnten? Was hätten sie zu sagen? In 39 Monologen erzählen ermordete Frauen und Mädchen ihre eigene Geschichte. Die Autorin lässt die Opfer ihre eigene Sicht auf die Ereignisse schildern. Die Monologe sind angelehnt an Femizide, die tatsächlich geschehen sind; sie wurden allerdings, aus Respekt gegenüber den Opfern und ihrer Hinterbliebenen verfremdet: Orte, Namen und Nationalitäten wurden geändert, Mordfälle miteinander verwoben. Und doch: Jede Bezugnahme auf wahre Begebenheiten und Personen ist nicht rein zufällig.

In diesen Monologen vermischen sich Trauer, Trotz, Empörung, Enttäuschung, aber auch Hoffnung und Humor. In den Monologen verbirgt sich scharfe Kritik an einem System, das Gewalt gegen Frauen toleriert, kleinredet und/oder ignoriert. Auch zwischen den Geschichten gibt es immer wieder Ähnlichkeit, auch wenn sie grundverschieden sind. Es ist das Patriarchat, das diese Gemeinsamkeiten ermöglicht: das verletzte männliche Ego, die toxische Männlichkeit und vermeintliche Besitzansprüche.

Jeder Monolog enthielt einen oder zwei Sätze, die bei mir genau ins Schwarze getroffen haben und bei mir für eine Gänsehaut gesorgt haben. Man fühlt sich mit diesen Frauen verbunden, auch wenn sich ihre Lebensrealität komplett von der eigenen unterscheidet. Es gibt immer eine Gemeinsamkeit, wie winzig die auch sein mag. Natürlich gab es Monologe, die mich mehr mitgenommen haben als andere, aber das soll nicht heißen, dass ich die eine Stimme in ihrer Wichtigkeit mehr gewichte als eine andere.

Die Monologe beschäftigen mich über das Lesen hinaus; ich kehre im Kopf immer wieder zu der einen oder anderen Geschichte zurück und fange dann an im Buch zu blättern. Man sollte die Monologe nicht alle direkt hintereinander weglesen, sondern sich beim Lesen wirklich Zeit lassen, damit die Schicksale ihre Wirkung entfalten können. Ich hoffe, hoffe sehr, dass das Buch irgendwann ins Deutsche übersetzt wird. Es ist, meiner Meinung nach, ein wichtiges Werkzeug im Kampf gegen patriarchale Gewalt.

In den Monologen verarbeitet die Autorin unterschiedliche Formen der Gewalt gegen Frauen, ua moderne Sklaverei, Kinderprostitution, häusliche Gewalt, Mitgiftmord (das war für mich etwas ganz Neues), Menschenhandel, Genitalverstümmelung und Infantizid. Zu den unterschiedlichen Gewaltformen gibt es im Anhang des Buches auch eine Art Faktencheck, in dem vor allem auf quantitative Aspekte eingegangen wird. Aber es wird auch beschrieben welche gesellschaftspolitischen und sozialen Auswirkungen diese Gewalt hat. Auf diesen Seiten tun sich wahre Abgründe auf und ich habe (leider) vieles erfahren und gelernt (zB Mitgiftmorde oder die Cow Pills).

Die Monologe sind von Intersektionalität geprägt: Frauen aus verschiedenen Ländern, verschiedener Nationalitäten und Kulturen und aus verschiedenen sozialen Schichten kommen zu Wort. Und doch schwingt die weiße Perspektive bei all diesen Geschichten mit. Ich habe mich immer mal wieder gefragt, wie würde eine nepalesische Frau die Geschichte der nepalesischen Ermordeten erzählen? Und wie würde die Palästinenserin, die am helllichten Tag von ihrem Mann auf dem Markt ermordet wird, erzählen?

Wenn es um Femizide geht, dann dauert es meist nicht lange bis das Wort „Ehrenmord“ fällt („delitto d’onore“). Dieses Thema wird im Faktencheck vor allem mit Bezug auf die Länder Afghanistan und Pakistan besprochen. Auch in einem der Monologe wird der „Ehrenmord“ thematisiert und doch unterliegt dem Ganzen eine sehr weiße Perspektive. Im Faktencheck kommt auch der Token der Witwenverbrennung vor. Beides sind Überreste von kolonialem Gedankengut, das differenziert betrachtet werden muss. Wer diese Themen vertiefen möchte, abseits vom sog White Feminism, dem*der empfehle ich das Sachbuch „Against White Feminism“ von Rafia Zakaria. Die Autorin hat zu vielen Themen viel Wichtiges zu sagen, vor allem zu den Themen Ehrenmord und Witwenverbrennung, das bei einer weißen Perspektive einfach unbedacht und ausgelassen bleibt.

Die Neuausgabe wurde um verschiedene Monologe ergänzt. Neu ist ua der erste Monolog „Casa dolce casa“, in dem die Situation der Frauen während des Corona-Lockdowns im März 2020 in Italien verarbeitet wird – allein dieser Monolog hat mich schon arg mitgenommen. Ganz am Ende findet sich noch ein Monolog aus männlicher Perspektive. Auch hier frage ich mich: Hat man diesen Text zusammen mit einem Mann geschrieben, vielleicht sogar mit einem reuigen Täter?

Ich bin mir sicher, dass man dieses Korpus noch um viele weitere Stimmen ergänzen könnte. Man könnte zB noch behinderte Frauen zu Wort kommen lassen oder trans Frauen. Es ist traurig, dass ich darüber nachdenke, welche Stimmen man noch ergänzen könnte. Es macht mich wütend, dass das überhaupt notwendig ist. Wäre es nicht viel besser, wenn in Zukunft keine Neuausgabe, keine neue Bestandsaufnahme notwendig wäre?

Wer einen Einblick in die Monologe erhalten möchte (das Buch wurde nämlich noch nicht ins Deutsche übersetzt), der*die kann sich einige Bühnenlesungen anschauen bzw anhören (2016 gab es in Düsseldorf sogar eine deutsche Vorstellung): https://www.youtube.com/watch?v=f9AKIOMGhiA oder http://feriteamorte.it/eng/

Es gibt aber auch gute Nachrichten, die die Autorin kurz am Ende des Buches zusammenfasst. Unter anderem lobt sie dort den Umgang Schwedens mit der Prostitution. Das schwedische Modell wird in feministischen Diskursen heftig debattiert. Ich habe mich mit dem Thema Sexarbeit/Prostitution noch nicht auseinandergesetzt, weshalb ich nicht wirklich bewerten kann, ob es sich dabei um „gute Nachrichten“ handelt.


Mein Fazit

Femizide und die Gewalt gegen Frauen sind weltweite Phänomene, die ein unglückliches Band zwischen allen Frauen – jung oder alt, arm oder reich, weiß oder BiPoC, privilegiert oder nicht – weltweit knüpfen. Es sind angebliche Einzelfälle, dabei sind es Geschichten einer Bevölkerungsgruppe und sie dienen dazu eben dieser Gruppe eine Stimme zu geben, sie hörbar, erfahrbar zu machen. Es ist ein und dieselbe Geschichte, die sich in unterschiedlichen und doch ähnlichen Facetten jeden Tag auf der ganzen Welt endlos wiederholt. Die Autorin Serena Dandini gibt den Ermordeten eine Stimme. Das, was die Opfer zu erzählen haben, ich kann es nicht anders sagen, bricht einem das Herz.


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