Rechts neben dem Buch liegen Spielkarten, die mit der Rückseite nach oben zeigen. Links vom Buch liegen Tupfer und OP-Besteck.

[Rezension] Ein simpler Eingriff

Ein simpler Eingriff – Yael Inokai

Rechts neben dem Buch liegen Spielkarten, die mit der Rückseite nach oben zeigen. Links vom Buch liegen Tupfer und OP-Besteck.

Verlag: Hanser Berlin | Seiten: 192
Erscheinungsjahr: 2022

Kurzbeschreibung

Meret ist Krankenschwester und betreut Patientinnen, die sich einem neuartigen medizinischen Eingriff unterziehen, damit sie von ihrem psychischen Leiden befreit werden. Meret ist von der Macht der Medizin überzeugt und glaubt an eine Heilung, bis diese Überzeugung langsam zu bröckeln beginnt…


Meine Meinung

Buch und Autorin habe ich während der Leipziger Buchmesse Pop-Up 2022 entdeckt. Die Lesung und das Gespräch zum Buch klangen auch vielversprechend, aber leider hat sich meine anfängliche Begeisterung bei der Lektüre ziemlich schnell wieder gelegt. Dabei versteckt sich in diesem schmalen Büchlein noch so vieles, was hätte erzählt werden können.

Das Buch ist recht schmal und dank der vielen kurzen Kapitel (und dem sehr angenehmen, weichen sprachlichen Stil) hat man das Gefühl nur so durch die Seiten zu fliegen. Die Romanhandlung teilt sich auf drei Teile mit unterschiedlichen Erzählschwerpunkten auf: Im ersten Teil lernt der*die Leser*in die Hauptfigur Meret kennen, die für ihre Arbeit in der Klinik lebt. Sie ist ruhig und still wie die Station auf der sie arbeitet. Man könnte sagen, dass Meret fast mit der Stille der Station verschmilzt und sich somit perfekt in das System einfügt. Eines Tages trifft sie auf Marianne, die Tochter eines reichen und einflussreichen Mannes. Marianne soll sich wegen ihrer wiederkehrenden, heftigen Wutausbrüche einem neuartigen Eingriff unterziehen. Dieser Eingriff soll dafür sorgen, dass ihre Wutausbrüche verschwinden und dass ihr Wesen wieder den gesellschaftlichen Erwartungen und Normen entspricht.

Im zweiten Teil verschiebt sich Merets erzählerischer Blick auf Sarah, einer anderen Krankenschwester. Mit Sarah teilt sich Meret im Schwesterwohnheim ein Zimmer (und mehr). Sarah arbeitet allerdings auf einer anderen Station und stellt somit eine Art Gegengewicht zu Merets ruhiger Arbeit dar.

Im dritten Teil laufen die Schicksale der drei Frauen zusammen; aber irgendwie läuft auch alles ins Leere. Ich habe aufgrund des Handlungsaufbaus und der vielen Andeutungen und Hinweise etwas ganz Anderes erwartet. Ich hatte einen Knall erwartet, doch gefühlt schlug mir nur warme Luft entgegen. Denn plötzlich lag der Schwerpunkt der Handlung ganz woanders. Gegen Ende bekam ich mehr und mehr das Gefühl, dass der Eingriff und die Kritik daran und an dem System nur als Aufhänger, als Mittel zum Zweck dienten, um eine ganz andere Geschichte zu erzählen.

Die Geschichte um Meret ist eine Geschichte, die für mich in ihrer übertragenen Bedeutung besser funktioniert als in ihren konkreten Ereignissen. Man muss hier ein bisschen zwischen den Zeilen lesen. Die Veränderungen in Merets Arbeitsleben fungieren als eine Art Sinnbild für die Veränderungen in Merets Privatleben und in ihrem Denken. Diesen Prozess hat die Autorin sehr clever in den Roman eingeflochten und erzählt.

Was mir auch sehr gut gefallen hat, waren die Parallelen zu unserer Realität. Denn obwohl die Geschichte annährend zeit- und ortlos erzählt wird, sind einige Parallelen zu (medizin-)historischen Begebenheiten und Persönlichkeiten unserer Vergangenheit doch sehr auffällig. Während der Lektüre hatte ich schon so meine Vermutungen, da mir aber das medizin-historische Fachwissen fehlte, hat mich erst der Hinweis einer Freundin auf die richtige Fährte gebracht. Stichwort: Lobotomie.

In diesem Sinne ist es also auch eine Geschichte, die sich kritisch mit menschenunwürdigen medizinischen Praktiken beschäftigt. Die Autorin behandelt in ihrem Roman auch die Frage, wie sich dieser „simple“ Eingriff und dessen doch sehr komplexe Konsequenzen auf das Leben der Patientinnen auswirkt. Denn es sind mehrheitlich Frauen, die sich diesem Eingriff unterziehen und das nicht gerade auf freiwilliger Basis. Nicht nur in dieser Hinsicht ist der Roman auch ein feministischer: Die Geschichte um Meret erzählt auch von einem Ausbruch aus menschenunwürdigen Praktiken, aus sozialen Normen und Erwartungen.

Hinsichtlich einer Figur verschenkt der Roman sehr viel erzählerischer Potenzial: Meret hat eine jüngere Schwester, Bibiana, kurz Bibi. Im Roman taucht diese Nebenfigur nur sporadisch auf und doch wurde ich das Gefühl nicht los, dass hinter ihren Auftritten mehr stecken würde. Auch wenn man nur wenig über sie erfährt, geht aus den wenigen Begegnungen hervor, dass Bibi ein ganz anderes Leben als ihre Schwester führt. Sie ist aufmüpfig und erfüllt somit nicht die Erwartungen, die an einer Frau gestellt werden – ähnlich wie Marianne. Wenn man ein stärkeres Augenmerk auf Bibi gelegt hätte, hätte der Roman eine ganz andere, spannendere Richtung einschlagen können. Der Fokus, den die Autorin letztendlich gewählt hat, mag in den Augen vieler Leser*innen der absolut richtige gewesen sein; mich hat die Autorin leider überhaupt nicht mitreißen können. Vor allem wenn ich an das Ende denke, das mir viel zu sehr nach Friede-Freude-Eierkuchen roch und der Ernsthaftigkeit und Schwere des restlichen Romans nicht gerecht wurde.

Sprachlich hat dieser Roman eine sehr kunstvolle und elegante Ausrichtung – das hat das Leseerlebnis für mich zu etwas Besonderem gemacht. Es ist ein ruhiges Erzählen mit einer bedächtigen Wortwahl: Kein Wort zu viel, keines zu wenig; alles steht am richtigen Platz und vieles, wie schon erwähnt, steht zwischen den Zeilen.


Mein Fazit

„Ein simpler Eingriff“ von Yael Inokai hat sich für mich als unbefriedigende Lektüre herausgestellt, die viel mehr hätte sein können. Schon bei der Hälfte des Romans wusste ich, dass er keinen Nachhall in mir auslösen würde. Sehr schade! Eingeschränkte Leseempfehlung.


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