Das Buch liegt auf einem weißen, flauschigen Hintergrund. Um das Buch herum liegen vier Fotografien: Drei davon zeigen verschiedene Quallenarten und das vierte Bild zeigt eine Ansammlung von pinken Seesternen.

[Rezension] Aufruhr der Meerestiere

Aufruhr der Meerestiere – Marie Gamillscheg

Das Buch liegt auf einem weißen, flauschigen Hintergrund. Um das Buch herum liegen vier Fotografien: Drei davon zeigen verschiedene Quallenarten und das vierte Bild zeigt eine Ansammlung von pinken Seesternen.

Verlag: Penguin Random House | Seiten: 304
Erscheinungsjahr: 2022

Kurzbeschreibung

Luise ist eine erfolgreiche und renommierte Meeresbiologin und die Expertin auf ihrem Spezialgebiet: der Meerwalnuss (Mnemiopsis leidyi), einer im dunklen Ozean leuchtenden und invasiven Lebensform. Im Rahmen einer Forschungskooperation mit einem Tierpark reist Luise nach Graz. Für die Zeit ihres Aufenthalts kommt Luise in der Wohnung ihres Vaters unter. Dort stellt sie sich ihrer Kindheit und der gemeinsamen, beschwerlichen Vergangenheit als Vater und Tochter.


Meine Meinung

Auf den Roman bin ich während der Veranstaltung des Blauen Sofas 2022 aufmerksam geworden: Was die Autorin damals in dem Interview über das Buch und ihre Arbeit daran verriet, klang wirklich vielversprechend. Seitdem habe ich es vielleicht zweimal in die Hand genommen, es angelesen, bin aber nie über die ersten 10-20 Seiten hinausgekommen. Doch als das Buch dann auf der Longlist des Deutschen Bücherpreises 2022 aufgetaucht ist, war es an der Zeit dem Roman eine weitere Chance zu geben. Am liebsten hätte ich das Buch direkt wieder abgebrochen, aber ich habe es durchgezogen, bis zum Schluss. Und jetzt da ich das Buch ausgelesen habe, habe ich viele Fragen.

Ich befürchte, mir ist beim Lesen einfach der springende Punkt des Romans entgangen. Ich hatte das Gefühl, dass ich irgendein wichtiges Memo verpasst habe, was dem Inhalt einen irgendwie geformten Sinn gegeben hätte. Die Leseeindrücke meiner ersten beiden abgebrochenen Versuche bestätigten sich auch beim driten Durchgang: Das Erzählen war schwammig, ziellos – die angebliche Sprachlosigkeit der Protagonistin kaschiert sie mit extrem wortreichen Gedanken und Wahrnehmungsbeschreibungen. Man geht beim Lesen in einem Meer aus Worten, Gedanken und thematischen Monologen unter. Es fällt einem zusehends schwer den Kopf über Wasser zu halten. Es mag sein, dass es Personen gibt, die dieser Erzählstil anspricht – ich gehöre leider nicht dazu.

Um ehrlich zu sein, hatte ich auch erwartet, dass die Meerwalnuss viel stärker im Vordergrund stehen würde, aber da habe ich wohl ebenfalls etwas missverstanden. Immerhin, das habe ich verstanden: Die Meerwalnuss ist in diesem Roman mehr als nur Forschungsobjekt und -interesse der Protagonistin. Die Rippenqualle ist eine Metapher, aber wofür genau? Diese Frage ist für mich offen geblieben. Die Meerwalnuss ist „Globalisierungsgewinnerin. Nutznießerin des Klimawandels, Monster der Anpassung“ (S. 57). Für sie zählt das Überleben des Schwarms mehr als jegliches individualistisches Wohlbefinden. Also ein Gegenbild zu unserer Gesellschaft? Ein Gegenbild der Protagonistin? Vielleicht soll die Meerwalnuss auch eine Metapher für Luises Eltern sein (schließlich frisst die Meerwalnuss ihre eigenen Kinder? – aber dann wäre die Thematisierung einer Mutter-Tochter-Beziehung doch passender gewesen)? Ich weiß es nicht, aber ich lasse mich gerne auch im Nachgang noch erleuchten.

Die Protagonistin Luise (oder Luis)… Zu ihr habe ich leider so gar keinen Zugang gefunden. Sie selbst bezeichnet sich als eine Insel. Sie hat ein Herz aus Stein, ist unabhängig und einsam. Sie ist eine der erfolgreichsten Wissenschaftlerinnen auf ihrem Forschungsgebiet.Und doch wird sie geplagt (so wie die Meerwalnuss die Meere und die Menschen plagt?). Luise leidet an Neurodermitis, an einer Essstörung und an einer gestörten Selbstwahrnehmung. Diese Eigenschaften und Leiden prägen die Geschichte. In den inneren Monologen geht es sehr viel um Schönheit, Alter, Körperideale und -normen. Sie sinniert über das eigene Sein und Werden und über ihren Erfolg im Beruf. Das alles sind natürlich Themen mit denen ich mich (teilweise identifizieren konnte). Aber die Herangehensweise hat mich nicht wirklich erreicht.

Dann gibt es da noch die gestörten Beziehungen, um die es im Roman vordergründlich geht: die gestörte Beziehung zu sich selbst, zur Arbeit, zu ihrer Familie. Im Roman wird vor allem die Beziehung zu ihrem Vater aufgerollt. Während der Auseinandersetzung mit ihrem Vater, die in seiner vollkommenen Abwesenheit stattfindet (denn während Luise die Wohnung des Vaters vorübergehend bezieht, hält sich der Vater beim Bruder in Nürnberg auf), fallen Sätze wie

Er reichte ihr sein Portemonnaie unter dem Tisch. Luise sollte von seinem Geld für beide bezahlen. Warum, fragte sie.
Wie sieht das denn sonst aus, sagte er. Wenn ich ganz selbstverständlich für dich bezahle.
Wie denn?
Als ob ich hier mit einer Hure sitze. (S. 211)

Oder

Die Beziehung zwischen Vater und Tochter sollte per Gesetz verboten werden. Aus ihr wird ausschließlich Unglück geboren. (S. 248)

Ja, diese Vater-Tochter-Beziehung ist sehr merkwürdig, mehr als nur merkwürdig oder gestört. Ich frage mich ja auch, was der Vater für ein Frauenbild hat, wenn er in seiner eigenen Tochter eine Hure sieht? Also kein Wunder, dass Luise so viele physische und psychische Baustellen hat. Hm. Es gibt also jede Menge aufzuarbeiten, aber auch hier: die Art und Weise wie die Protagonistin dabei vorgeht, fand ich dann doch sehr kurios und irgendwie auch auswegslos. Sie versucht sich den Erinnerungen zu stellen, aber diese Konfrontation bleibt (in meinen Augen) ergebnislos.

Wie bereits gesagt, mir hat sich der Dreh- und Angelpunkt des Romans nicht erschlossen. Thematisch-emotionaler Ebene war da so viel und es wurde immer mehr drauf gepackt, bis alles irgendwie verstopft war (wie die Leitungen der Schiffe mit den Schwärmen der Meerwalnuss?), dass irgendwann alles unübersichtlich wurde. Man kann das kunstvoll, modern oder experimentell nennen; ich fand es verworren, ohne Anfang oder Ende. Ja, es gibt viele Parallelen zwischen Luises Leben und dem Leben der Meerwalnuss, aber irgendwie…?


Mein Fazit

Dafür, dass es der Roman auf die Longlist des Deutschen Buchpreises 2022 geschafft hat, fand ich ihn eher enttäuschend. Ich habe teilweise etwas ganz anderes erwartet, als das, was ich schließlich zwischen den Seiten fand. Und ich glaube, ich habe den Roman einfach nicht verstanden. „Aufruhr der Meerestiere“ ist eine kaleidoskopische, schillernde Geschichte, wie die Rippenqualle, aber damit hat mich die Autorin viel eher abgeschreckt als fasziniert. Eingeschränkte Leseempfehlung.


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